Es gibt vermutlich keinen Satz, den Sie in Ihrem Optikerleben öfter gesagt haben bzw. noch sagen werden als „1 besser oder 2 besser?“ Und obwohl dieser Satz so einfach klingt, wissen Sie als Augenoptiker, dass sich hinter diesem einfachen Satz die volle Kompetenz Ihrer Meisterausbildung versteckt. Was haben wir nicht alle in der Meisterprüfung geschwitzt und gehofft, dass wir „Stil auf Achse“ nicht mit „Achse auf Achse“ verwechseln und was haben wir uns nicht mehr gewünscht als eine schnelle Antwort des Probanden wie „Ich kann keinen Unterschied erkennen“.
Keine Sorge, in diesem Leitartikel beleuchten wir nicht die Vor- und Nachteile der Zylindernebelmethode und beraten Sie auch nicht, welche Refraktionsmethode mehr oder weniger genaue Ergebnisse liefert. Angesichts der Tatsache, dass meine letzte „echte“ Refraktion mehr als 15 Jahre zurückliegt, müsste ich hier eher auf Ihre Expertise vertrauen als auf mein mittlerweile leicht angestaubtes Refraktionswissen. Vielmehr möchten wir uns dem Refraktionsraum „strategisch“ nähern und die Frage beantworten: Wie viel „Show“ erwartet der Kunde in Zukunft von uns bzw. wird ein Augenoptiker ohne optometrische Expertise in Zukunft überhaupt noch überleben können? Also: 1 besser (OHNE Technik und Optometrie) oder doch 2 besser (MIT Technik und Optometrie)?
Bevor wir uns der Zukunft widmen, versuchen wir doch einfach mal den Status quo abzubilden. Schließlich ist schon heute die Schere zwischen „klassischem Augenoptiker“ und „High-End-Optometrist“ riesig. Wir haben in unserem Marketing-Alltag sowohl mit Abberometern, Tonometern aber auch mit klassischen Messbrillen und Phoroptoren zu tun. Jeder Augenoptiker hat sein ganz persönliches Set-up, mit dem er in seinem regionalen Markt mindestens aktiv, im besten Fall auch erfolgreich ist. Wenn man die aktuelle Situation in deutschen Refraktionsräumen zuspitzen möchte, dann gibt es unserer Erfahrung nach die folgenden vier Augenoptiker-Typen:
Da wäre zum einen der „klassische Augenoptiker“: Er versteht sein Handwerk und ist am Phoropter bzw. der Messbrille ein echter Meister. Keiner wechselt so schnell die Messgläser wie er. Er schwört auf eine solide Refraktion und hat für sich entschieden, dass es für seine Kunden nicht genauer als 0.25 oder in absoluten Ausnahmefällen auch mal 0.125 Dioptrien sein muss. Er hat schon viele neue Technologien kommen und teilweise auch wieder gehen sehen und schwört nach wie vor auf die klassische Refraktion. Für ihn (und seine Kunden) ist und bleibt die klassische Refraktion das Maß aller Dinge und irgendwelche „teuren weißen Kästen“ kommen ihm aus Prinzip schon nicht in den Refraktionsraum.
Dann haben wir da den „Schönwetter-Abberometristen“. Im tiefsten Inneren ist er eigentlich auch ein klassischer Augenoptiker. Da sein bisheriges Autorefraktometer aber schon mit mindestens drei Füßen im Jenseits stand und Ersatzteile schon seit über zehn Jahren nicht mehr verfügbar sind, konnte er dem unschlagbaren Angebot seines Glaslieferanten nicht widerstehen, sich ein schickes neues Abberometer inkl. Tonometer und einigen weiteren Spielereien in den Refraktionsraum zu stellen. Schließlich war das gute Stück fast umsonst, easy quer-finanziert über den 3-Jahres-Glasabschluss. Seitdem wird das Gerät bei „guten Kunden“ – also dort wo es sich lohnt – abgedeckt und eingeschaltet. Fast so wie ein Oldtimer, den man auch nur dann aus der Garage holt, wenn die Sonne scheint.
Dann haben wir den „Technik-Liebhaber“, der sich gerne mal ein neues Messgerät gönnt, und zwar nicht nur deshalb, weil er etwas zum Abschreiben für die Bilanz benötigt, sondern weil er tatsächlich einen Mehrwert in diesen Geräten sieht. Beim „Technik-Liebhaber“ gibt es zwei Sub-Typen. Der eine sieht seinen Mehrwert vor allem darin, durch eine perfekte Show im Refraktionsraum seine Durchschnittspreise im Brillenverkauf zu erhöhen. Daher ist die „Premium-Refraktion“ auch für alle Kunden kostenlos, schließlich bezahlen sie die dann indirekt über seine höherwertigen Brillengläser. Der andere Subtyp des „Technik-Liebhabers“ ist häufig auf dem Land zu finden, wo der nächste Augenarzt mindestens 20 Autominuten entfernt ist. Er hat für sich eine Art Verantwortung seinen Kunden gegenüber entdeckt, zumindest die „ganz groben Fälle“ herauszufiltern und dann bei Bedarf zum über-übernächsten Augenarzt acht Ortschaften weiter zu „überweisen“. Für ihn ist das indirekt eine Art Kundenservice. Denn schließlich kommen die Kunden häufig auch dann noch „kurz zum Drüberschauen“ zu ihm, wenn sie eigentlich schon längst in der Notaufnahme hätten sein müssen.
Und dann gibt es natürlich noch den echten „Optometrie-Guru“, der neben Technik vor allem in sein Fachwissen investiert hat und das auch weiter tut. Ob mit oder ohne Master-Ausbildung, dieser Typ Augenoptiker ist mit allen optometrischen Wassern gewaschen und hat schon so ziemlich alles auf dem Stuhl gehabt, was es an Besonderheiten an den Augen so gibt. In der Regel ist dieser Typ Augenoptiker gut vernetzt und hat sich in seiner Region damit schon fast einen Namen als „besserer Augenarzt“ gemacht.
Gleichzeitig gibt es beim „Optometrie-Guru“ auch eine Art Nebenwirkung: Denn obwohl er im Refraktionsraum jeden Tag zu wahren Höchstleistungen aufläuft, schafft er es im Rennen um den besten Brillenverkauf häufig nicht auf das Siegertreppchen. Er spart gerne mal für den Kunden, obwohl dieser das vielleicht eigentlich gar nicht will.
Zugegeben, diese 4 Typen sind überspitzte Beispiele und ich hoffe, Sie verzeihen mir als Augenoptiker-Kollegen die ein oder andere süffisante Bemerkung in und zwischen den Zeilen. In der freien Optiker-Wildbahn wird es diese Extreme vermutlich so nicht 1:1 geben, aber die unendlichen Mischformen dieser 4 Grundtypen allemal. Vielleicht haben auch Sie sich an der ein oder anderen Stelle wiedergefunden und würden sich jetzt vielleicht zu 20 % als Typ A, 70 % als Typ B und 10 % als Typ C bezeichnen.
Aber was hat das mit der Fragestellung zu tun, welche Strategie in Zukunft die erfolgreichere sein wird? Grundsätzlich kann man heute sagen, dass keiner dieser Typen für sich genommen pauschal erfolgreicher ist als der jeweils andere. Es gibt wahnsinnig viele „klassische Augenoptiker“ die extrem erfolgreich sind, es gibt aber auch viele Optometrie-Gurus, die zwar echte Experten sind, wirtschaftlich betrachtet aber mehr am Hungertuch nagen als am Hummerschwanz.
Doch die eigentliche Frage war ja: Wie wird das in Zukunft aussehen? Wird es den „klassischen Augenoptiker“ überhaupt noch geben bzw. wird ein Augenoptiker in Zukunft nur noch dann erfolgreich sein, wenn er voll und ganz auf den Optometrie-Zug aufspringt. Auch wenn wir natürlich keine Glaskugel haben, lässt sich diese Frage relativ leicht anhand der aktuellen Entwicklungen prognostizieren.
Schauen wir uns doch dazu einfach die Entwicklungen in folgenden Bereichen an:
Ich denke, beim Stichwort „Alterspyramide“ haben Sie sofort ein Bild vor Augen. Es wird in Zukunft immer mehr ältere Menschen geben, die gleichzeitig immer mehr Wert auf Gesundheit und Vorsorge legen. Würden alle Deutschen ab dem 60. Lebensjahr (22 Millionen) ein- bis zweimal pro Jahr zur Vorsorgeuntersuchung zum Augenarzt gehen, dann wären das gute 30.000.000 Vorsorgeuntersuchungen pro Jahr – Behandlungen, Operationen oder Nachsorgen nicht mit eingerechnet. Die Augenärzte – auch wenn diese das vielleicht in Teilen anders beurteilen würden – werden das nicht abarbeiten können.
Was für die allgemeine Bevölkerung gilt, gilt ebenso für die Augenärzte selbst. Aktuell gibt es in Deutschland ca. 8.000 Augenärzte, Tendenz sinkend. Es treffen also immer mehr ältere Menschen auf immer weniger Augenärzte. Und selbst wenn die Politik heute umsteuern und ein Sofort-Programm für Augenärzte ins Leben rufen würde, würde es – auf Grund der langen Ausbildung – vermutlich 10 Jahre oder länger dauern, bis wieder ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Patienten und Augenärzten hergestellt wäre.
In Deutschland kann nicht einfach jeder Augenarzt an einem beliebigen Ort eine Praxis eröffnen. Die Kassenärztliche Vereinigung koordiniert über sog. Arztsitze, in welchen Regionen wie viele Ärzte einer bestimmten Fachrichtung präsent sein dürfen. In der Regel bildet jede Augenarztpraxis einen solchen Arztsitz. Geht ein Augenarzt in den Ruhestand, so kann er – vereinfacht ausgedrückt – diesen Arztsitz an einen potenziellen Nachfolger verkaufen. Im Grunde ist das so, als ob Sie Ihr Augenoptik-Geschäft verkaufen wollen, nur etwas formeller.
Damit soll gewährleistet sein, dass in jeder Region, entsprechend der Einwohnerzahl, genügend Fachärzte vorhanden sind und nicht Arztsitze von wirtschaftlich schwachen Regionen in Ballungszentren verlagert werden. Dass dies im Falle von Augenärzten nicht (mehr) gut funktioniert und es ein gewisses Ungleichgewicht zwischen der Anzahl der Fachärzte und der Anzahl der Patienten gibt, hören Sie jeden Tag von Ihren Kunden.
Hinzu kommt jetzt noch folgende Problematik: Facharztpraxen in Deutschland sind ein lukratives Geschäft und geraten dadurch gerne ins Visier (branchenfremder) Investoren. Ein Beispiel: In Bayern hat sich die „Ober Scharrer Gruppe“ bereits 130 Augenarztsitze geschnappt. Als Wirtschaftsunternehmen haben diese Verbünde aber kaum Interesse an „schlecht bezahlten“ Vorsorgeuntersuchungen, obwohl Sie natürlich zur Grundversorgung beitragen müssen. Hier gilt daher häufig: „Operieren, bis die Skalpelle glühen“. Im Grunde ist das sogar nachvollziehbar – schließlich macht Ihnen der lukrativere Verkauf einer schicken Gleitsichtbrille vermutlich auch mehr Spaß als der Verkauf einer Lupe.
Gott sei Dank sind nicht alle Menschen, die zum Arzt gehen, pauschal krank. Aber Augenärzte sind nunmal dazu da, um Krankheiten zu heilen und nicht, um gesunden Menschen zu sagen, dass sie gesund sind. Natürlich muss man dazu wissen, welcher Patient ein ernstzunehmendes Problem hat. Das macht auch der Augenarzt über ein Screening, in dem er Symptome bewertet bzw. Auffälligkeiten erkennt. Das Paradoxe dabei: Die allermeisten Augenärzte wollen ebenfalls keine gesunden Patienten in ihren Wartezimmern. Vor einiger Zeit hat mir ein Augenarzt verraten: „Wissen Sie Herr Schnuchel, je kranker, umso besser!“ Gemeint war dabei die „wirtschaftliche Komponente“, schließlich gibt es mehr Abrechnungsziffern für Operationen, Behandlungen und Therapien etc. als für Vorsorgeuntersuchungen.
Zusammengefasst kann man also festhalten: Immer mehr ältere Menschen, denen Gesundheit tendenziell wichtiger wird, haben perspektivisch weniger Möglichkeiten, Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch zu nehmen. Ein klassischer Engpass, den es zum Wohle der Menschen zu lösen gilt.
Es muss also jemanden geben, der das Zepter in die Hand nimmt und sich langfristig um das Thema „Vorsorgeuntersuchung“ bzw. Screening kümmert. In diesem Zuge fallen mir eigentlich nur zwei Zielgruppen ein, die dafür wirklich in Frage kommen. Das sind zum einen die medizinischen Fachangestellten in den Arztpraxen, die dafür eigentlich überhaupt keine Zeit und schon gar keine spezielle Ausbildung haben (wenn das meine Frau liest, gibt es zu Hause wieder Ärger). Und Sie als gut qualifizierte Augenoptiker, Optometristen oder mehr! Hand aufs Herz: Wenn Sie Bundesgesundheitsminister wären und entscheiden müssten, ob in Zukunft Augenoptiker das Thema Screening übernehmen oder die Frau des Augenarztes in einer bereits völlig überfüllten Praxis – wie würde Ihre Entscheidung ausfallen?
Spinnen wir das ganze doch einfach mal zu Ende und beamen uns in das Jahr 2031. Der Nach-Nach-Nach-Nach-Folger von Herrn Lauterbach hat ein Gesetz erlassen, das es entsprechend ausgebildeten Augenoptikern erlaubt, ganz offiziell und ohne dabei mit einem Bein im Gefängnis zu stehen, Screening-Untersuchungen durchzuführen. Sie wären jetzt einer dieser spezialisierten Augenoptikern, haben von Tonometer bis OCT so ziemlich alles bei sich im Hinterzimmer stehen und eine entsprechend fundierte Weiterbildung genossen. Sie sind online mit Augenärzten in der Region (oder auch weltweit) vernetzt und können über ein Online-Portal Daten austauschen. Ihr Vorsorge-Terminkalender ist für die kommenden 14 Tage gut gefüllt und jeden Tag erreichen Sie neue Online-Terminanfragen für weitere Vorsorgeuntersuchungen. Bei jedem zehnten Patienten – pardon Kunden – stellen Sie eine Auffälligkeit fest, die ein Facharzt abklären müsste. Dazu buchen Sie direkt im Terminkalender des Augenarztes einen Termin für Ihren Kunden, sodass dieser schon übermorgen „medizinische Gewissheit“ über seine Augen hat. Und ich packe noch eine Kirsche auf die Sahnetorte obendrauf: Ihr Kunde muss auch keine drei Stunden im Wartezimmer des Arztes warten, sondern sitzt zwei Minuten nach dem offiziellen Termin schon auf dem Stuhl. Hammer!
So und jetzt wieder zurück in die Gegenwart. Natürlich können wir die Politik nicht beeinflussen, aber der Lauf der Dinge ist nunmal nicht aufzuhalten und genau das wird die Politik irgendwann erkennen oder der Markt einfach selbst lösen, weil es sich – Gesundheitsreform hin oder her – einfach herumspricht, dass man für eine Vorsorgeuntersuchung lieber mal zu einem der oben beschriebenen Augenoptiker geht anstatt zum Augenarzt. Und ich bin überzeugt, dass das genauso kommen wird! Und damit ist die Frage „1 besser (OHNE Technik und Optometrie) oder doch 2 besser (MIT Technik und Optometrie)?“ quasi schon beantwortet. So einfach kann das manchmal sein.
Aber Moment mal, eigentlich ja auch nicht, weil auch die modernste digitale, online vernetzte Technik benötigt jemanden, der sie mit seinem Fachwissen gezielt einsetzt und im Zweifel auch entscheiden kann, was weiter zu tun ist oder eben auch nicht. Also Kommando zurück. Die Frage müsste nicht lauten, ob man in Zukunft nur noch mit oder ohne Technik überleben wird, sondern vielmehr, ob man mit dem Fachwissen der Meisterprüfung anno 1987 langfristig erfolgreich sein wird oder ob man sich in Richtung Optometrie weiterentwickeln muss. Und – keine Sorge – wir fangen jetzt nicht wieder von vorne an, denn auch wenn die Technik in den kommenden Jahren immer noch schlauer und künstliche Intelligenz viel übernehmen wird, wird es immer noch die „menschliche Intelligenz“ benötigen. Lesen Sie dazu auch gerne das Interview mit dem Kollegen Ralf Bachmann ab Seite <?>.
Und was bedeutet das jetzt für Sie, für Ihr Unternehmen? Das hängt natürlich von vielen Faktoren ab. Ich möchte das mal so sagen: Wenn Sie nicht auf einem anderen Gebiet eine extreme Spezialisierung haben, also z. B. Kontaktlinsen, etc., die Sie deutlich von Ihren Marktbegleitern differenziert, dann wird am Thema „Screening & Optometrie“ kein Weg vorbeiführen. Und wenn dann noch dazu kommt, dass Sie entweder Ihr Unternehmen noch selbst erfolgreich führen oder es für einen Verkauf zukunftsfähig positionieren wollen, dann sollten Sie eines auf gar keinen Fall machen: in Panik verfallen.
Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass die Optometrie langfristig eine tragende Säule des Geschäftsmodells der meisten Augenoptiker sein wird und ja, es wird ein sehr steiniger Weg sein, bis die Kunden für diese Dienste im großen Stile Geld bezahlen. Aber Sie müssen Ihren Refraktionsraum deshalb nicht sofort mit Technik fluten. Fluten Sie vielmehr Ihren Kopf mit aktuellem Fachwissen, bilden Sie sich weiter, nutzen Sie die Möglichkeiten von WVAO, VDCO und vieler anderer Verbände und Schulungseinrichtungen und machen Sie sich selbst fit für eine optometrische Zukunft. Im Kern geht es aus meiner Sicht nicht um die Frage, ob man sich auf das Thema Optometrie einstellen sollte, sondern wann. Ich möchte jetzt keine blühenden Landschaften in der Augenoptik versprechen, wie einst Helmut Kohl, aber ich verspreche Ihnen, dass sich das Berufsbild des Augenoptikers ändern wird – zum Wohle aller, auch zu Ihrem!